(abg) Die Hausarzt-Katastrophe von Boltigen ist bekannt: Mohammed Al Saad sollte die Boltiger Hausarztpraxis von Dr. Robert Härri übernehmen und erhielt dafür ein zinsloses Darlehen der Gemeinde Boltigen in Höhe von 700’000 Franken. Dann stellte sich heraus, dass seine Facharzttitel mutmasslich gefälscht waren: Bewilligungen weg, Praxis zu, Arzt weg. Geld? Vielleicht weg. Und die Frage: Wer hat im Vorfeld etwas falsch gemacht? Das BAG ganz sicher, aber auch Kanton und die Gesundheit Simme Saane AG (GSS) liessen die Gemeinde ins offene Messer laufen.
Keine Frage: wenn jemand ein gut gefälschtes Dokument vorlegt, dann ist das schwer zu durchschauen. Und Fälschungen sind einfach heutzutage. Mohammed Al Saad hatte seine angeblichen Facharzttitel nach Recherchen des SRF im deutschen Baden-Württemberg erworben. Die Urkunden, die die Landesärztekammer Baden-Württemberg bis ca. 2019 ausstellte, waren simple Ausdrucke in schwarz/weiss mit einem Stempel und einer Unterschrift. Gute Fotografien solcher Urkunden gibt es im Internet dutzendfach. Ein entsprechender Stempel lässt sich leicht im do-it-yourself-Verfahren nachbauen.
Ab ca. 2020 hat es der Landesärztekammer Baden-Württemberg wohl auch gedämmert, dass solch wichtige Urkunden besser geschützt werden müssen. Leider hat man weder auf Hologramme, noch auf einen QR-Code mit Online-Bestätigung solcher Urkunden gesetzt. Zauberkünstler Dr. Oliver Erens, Pressesprecher der Landesärztekammer Baden-Württemberg, wollte sich denn auch zur fehlenden Fälschungssicherheit der Urkunden überhaupt nicht äussern – und zauberte nur belanglose Antwortfloskeln hervor. Doch auch hier gilt: Eine Google-Suche gibt qualitativ hochwertige Fotografien solcher Dokumente – mit lächerlicher Fälschungssicherheit.
Eingeführt wurde nämlich ein Prägestempel. Etwa im Jahr 2020. Blöder geht es eigentlich nicht mehr. Denn mit einer brauchbaren Vorlage aus dem Internet, einer Prägezange (z.B. für ein paar Franken von Trodat) und einem 3D-Drucker vom Baumarkt für die Prägeplatten, lässt sich das heutzutage für wenige Franken und mit geringen Fachkenntnissen nachmachen. Und wer technisch ganz unbegabt ist: Es gibt natürlich auch entsprechende Anleitungen im Internet. Da hat die Ärztekammer wirklich jede technische Entwicklung komplett verschlafen.
In der Folge dürfte dem BAG nach dem, was bislang bekannt ist, eine ziemlich ordentliche Fälschung vorgelegt worden sein. Die grosse Frage ist also, ob das BAG irgendwie hätte misstrauisch werden müssen. Z.B. bei dem zwingend erforderlichen Lebenslauf und/oder den erstaunlich guten deutschen Sprachkenntnissen, die Al Saad eine deutsche Facharztprüfung ermöglicht haben sollen, ohne dass so recht ersichtlich wäre, woher die eigentlich kamen. Doch da hüllt sich das BAG in Schweigen.
Grünes Licht, obwohl die Ampel auf Rot stand
Mit den Anerkennungen des BAG war die grösste Hürde für Al Saad denn auch genommen. Doch hatten Kanton und die ebenfalls angefragte und antwortende GSS AG, mit dem Expertenwissen, dass man von diesen Einrichtungen erwarten kann, wirklich keinerlei andere Warnzeichen sehen können? Die Antwort ist simpel: doch, sie hätten. Sie hätten es auch erkennen müssen.
Wer sich nämlich in der Materie auskennt, und das sollte man von «Experten» doch wohl erwarten, der weiss natürlich, dass eine eigene Hausarztpraxis in der Schweiz nur dann betrieben werden kann, wenn der Arzt auch zulasten der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) abrechnen kann. Zwar gibt es vor allem im Bereich «Schönheit» auch Ärzte, die darauf verzichten können, aber für einen Hausarzt ist das essenziell.
Und genau da hätten bei den sog. «Experten» vom Kanton und der GSS die Alarmglocken schrillen müssen. Denn nachdem der Nationalrat aus unerfindlichen Gründen den sog. «Ärztestopp» verhängt und mehrfach verlängert hatte, mussten ausländische Ärzte mindestens drei Jahre in der Schweiz als Arzt arbeiten, bevor sie selbstständig zulasten der OKP abrechnen dürfen, so festgelegt in Art. 37 KVG. Und die drei Jahre -noch dazu an einer zugelassenen Weiterbildungseinrichtung für Ärzte zu absolvieren- hatte Al Saad offensichtlich nicht erfüllt. Schliesslich kam er erst 2021 als Arzt in die Schweiz. Zwar ist den Gesundheitsexperten in der gesamten Schweiz irgendwann auch aufgefallen, dass eine solch pauschale Zugangshürde die prekäre ärztliche Versorgung nur verschärft. Doch anstatt den «Ärztestopp» über eine Totalrevision tauglich zu machen, wurde mit Ausnahmeregelungen versucht, zu reparieren.
Lange Rede, kurzer Sinn: Al Saad brauchte nicht nur die bereits hinlänglich diskutierte Berufsausübungsbewilligung des Kantons Bern, sondern auch eine «Kantonale Zulassung als Arzt oder Ärztin [um] zu Lasten der OKP gemäss Art. 38 KVV (in Erfüllung auch von Art. 55a KVG) tätig sein zu dürfen». Und die hätte er wegen des Ärztestopps und seiner nicht ausreichend langen Tätigkeit in der Schweiz nur im Rahmen einer Ausnahmebewilligung bekommen können – das war also keine reine Formalität. Hatte Al Saad eine solche Bewilligung, als die Gemeindeversammlung über das Darlehen am 31. Mai 2023 abstimmte? Daran bestehen nunmehr Zweifel.
GSS bestätigte fälschlich Zulassung zur OKP
Der Ablauf bei der Zulassung zur Obligatorischen Krankenpflegeversicherung ist nämlich wie folgt: Der Arzt, der so abrechnen möchte, muss bei SanteSuisse eine Abrechnungsnummer beantragen. Im Verfahren wird dann geprüft, ob er eine entsprechende kantonale Bewilligung zur Abrechnung hat (s.o.) und wenn alles in Ordnung ist, erhält er die Abrechnungsnummer. Nachprüfbar ist das dann über das Portal sasis.ch – für jedermann.
Und wie die GSS in ihrer jüngsten Medienmitteilung mitteilte (zusammenfassend z.B. bei der Jungfrau Zeitung) hat sie genau das (angeblich) getan und, wie mir von der Gemeinde Boltigen bestätigt wurde, am 11. Mai 2023 ein positives Resultat gemeldet:
Was auch immer die «Experten» der GSS da gemacht oder nicht gemacht haben: Richtig ist, Al Saad besass zu diesem Zeitpunkt keine Bewilligung zur OKP-Abrechnung vom Kanton Bern und auch keine ZSR-Nummer, die eine solche Zulassung indirekt bestätigt hätte. Die Auskunft der GSS an die Gemeinde Boltigen war schlichtweg falsch – oder, wenn man es sehr grosszügig auslegen will, für die Gemeinde Boltigen als Empfänger offensichtlich irreführend und eine Täuschung durch die GSS.
Woher ich das weiss? Ganz einfach: Weil ich am 23. Mai 2023 bei SanteSuisse in Sachen des Herrn Dr. Al Saad angefragt habe, um genau diese OKP-Zulassung zu klären. Dabei kam heraus, dass im Register Ärzte mit unterschiedlichen Nummern geführt sind, nämlich mit sog. K-Nummern und mit sog. ZSR-Nummern. Nach einigem Hin- und Her mit dem Pressesprecher von SanteSuisse, Matthias Müller, lautete die inhaltliche Antwort schliesslich:
Danke für Ihre Anfrage, die ich Ihnen gerne wie folgt beantworte.
Es handelt sich [bei dem Eintrag von Dr. Al Saad] um eine K-Nummer von einem angestellten Arzt, der nicht eigenständig gegenüber der Krankenversicherung abrechnen darf. Dafür braucht es eine sogenannte ZSR-Nummer. Bei der K-Nummer bleiben die Felder «Strasse», «PLZ/Ort», «Gültigkeitsgebiet» immer ohne Angaben. Durch Verknüpfung der K-Nummer mit der ZSR-Nummer des Arbeitgebers wird gegenüber dem Versicherer das Anstellungsverhältnis ausgewiesen. Angestellte Medizinalpersonen sind keine Leistungserbringer im Sinne des KVG. Sie können zwar in einem Anstellungsverhältnis Leistungen erbringen, der verantwortliche und abrechnungsberechtigte Leistungserbringer ist jedoch immer der Arbeitgeber mit der ZSR-Nummer.
Hilft das wie gewünscht? Bei Rückfragen können Sie mich gerne anrufen: xxxxxxxxxx
Beste Grüsse
Und damit keine Missverständnisse aufkommen konnten, fragte ich dann nochmal nach:
Von: Armin Berger <armin@a-bg.ch>
Gesendet: Dienstag, 23. Mai 2023 09:24
An: Müller Matthias – LPK SO <xxxxxxxxxxxxxx@santesuisse.ch>
Betreff: [-EXTERN-]Re: WG: Presseanfrage
Guten Tag Herr Müller
Vielen Dank für die Auskunft. Das hilft mir zum Verständnis deutlich weiter.
Da der betreffende Arzt in Kürze eine eigene Praxis eröffnen will, müsste er dann folglich wohl auch noch eine eigene ZSR-Nummer beantragen und die würde dann nach dem (erfolgreichen) Abschluss des Antragsverfahrens wieder über die Abfrage sichtbar sein (dann auch mit entsprechender Adresse/Kantonsangabe). Ist das so richtig?
Freundliche Grüsse
Armin Berger
Meine Annahme wurde wenig später bestätigt. Heisst: Selbst am 23. Mai 2023 war Al Saad nicht im Besitz der für den eigenständigen Praxisbetrieb erforderlichen ZSR-Nummer und er hatte eine solche auch überhaupt noch nicht beantragt. Und es wird zu diesem Zeitpunkt auch nicht die kantonale Bewilligung für eine ZSR-Nummer vorgelegen haben – es fehlten also die Grundvoraussetzungen für die Erteilung.
Nur: Wem vertraut man (vernünftigerweise) mehr: Dem kantonalen Gesundheitsamt, welches bereits bestätigt hatte, dass Al Saad alle notwendigen Bewilligungen und Zulassungen besitzt? Und den «Experten» der GSS, die ausdrücklich bestätigen, dass Al Saad zulasten der OKP abrechnen darf, da er die entsprechenden Bewilligungen und Zahlstellennummern besitzt? Oder einem Journalisten mit seinen Recherchen? Als Entscheider würde ich mich vermutlich (auch) auf die Experten verlassen. Und sie bei Fehlern in die Haftung nehmen.
Denn hätten die «Experten» vom Kanton und der GSS ihre Arbeit fachkundig und sorgfältig ausgeübt und der Gemeinde mitgeteilt, dass eine für den Praxisbetrieb wesentliche Bewilligung noch gar nicht vorliegt und noch nicht einmal beantragt ist, dann hätte man das Traktandum über die Darlehensgewährung an Dr. Al Saad wohl vernünftigerweise von der Tagesordnung der Gemeindeversammlung streichen müssen. Und man darf sich fragen, wie die Sache dann ausgegangen wäre.
Die GSS wurde selbstverständlich für eine Stellungnahme angefragt – sie hat sich allerdings nicht auf die Anfrage gemeldet.
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